Wenn Kinder sterben – Nachruf auf Carl
Wenn ein Kind stirbt, bleibt die Welt stehen. Worte versagen, Rituale erscheinen plötzlich sinnlos – und doch braucht es genau sie: Halt, Erinnerung und einen Ort für all das, was bleibt. Als Freier Redner begleite ich immer wieder Familien, die Kinder und Sternenkinder verloren haben. Ich weiß, dass es keine richtigen oder falschen Worte gibt – nur ehrliche. Worte, die trösten, würdigen und einen Funken Licht in das größte Dunkel bringen.
So wie bei Carl, der im März 2025 im Alter von neun Jahren gestorben ist. Wenige Wochen später feierten seine Eltern Raja und Fabian Mertgen seinen zehnten Geburtstag, es war der erste Geburtstag ohne ihn. Eine neue Zeitrechnung. „Es war der wohl traurigste Kindergeburtstag, denn es war Carls erster Geburtstag im Himmel“, schreibt Raja auf Instagram.
Hier unten haben wir jedenfalls einen Geburtstagstisch für dich aufgebaut – mit Kerze, Karte, Windmühle, Ballon und deinem Geburtstagskranz, so wie jedes Jahr.

Als Trauerredner und Autor habe ich schon etliche Nachrufe verfassen dürfen, aber dieser ist anders. Und ich darf ihn in Abstimmung mit Carls Eltern hier teilen. Denn sie wollen nicht schweigen, sie wollen erinnern. An ihren neunjährigen Jungen, der trotz schwerer Krankheit ein Leben voller Licht hinterlassen hat. Alles beginnt am 6. Juli 2015. An diesem Tag werden Raja und Fabian Eltern. Sie fühlen sich als Familie komplett. Und dann der Schock, als ihr Baby kollabiert und reanimiert werden muss. Die Diagnose erfahren sie Monate später: Eine seltene genetische Anomalie. Auf seinem vierten Chromosom fehlen 137 Gene – ein Gendefekt mit der kryptischen Bezeichnung 4q13.3-21.3.
Für die Eltern beginnt ein Leben zwischen Hoffnung, Erschöpfung und ganz viel Liebe. Nächte im Zwei-Stunden-Rhythmus, 40 Medikamentendosen am Tag, unzählige Krankenhausaufenthalte. Und trotzdem immer wieder kleine Meilensteine: Carls Einschulung im August 2024, seine erste Umarmung für den Papa, das gemeinsame Lachen beim Lieblingslied „Es gibt Reis“ von Helge Schneider.
„Wenig ist viel“, sagt Raja leise. „Ich habe gelernt, die Kleinigkeiten zu schätzen. Ich muss nicht den Kilimandscharo besteigen, sondern Momente schaffen.“ Diese Haltung zieht sich durch die gesamte Erzählung. Raja und Fabian haben gelernt, das Leben zu leben – nicht trotz, sondern mit Carls Krankheit.
Ein besonderer Ort auf diesem Weg war das Kinderhospiz Bärenherz Leipzig. Zunächst zögerten sie: „Hospiz – das ist doch nichts für uns“, erinnert sich Raja. Doch es wurde ihr sicherer Hafen – ein Ort des Durchatmens, der Geborgenheit und der ehrlichen Gefühle.
Im Bärenherz konnten wir alle sein, wie wir waren: erschöpft, ängstlich, wütend, aber auch fröhlich, voller Liebe und Hoffnung.
Als Carl im März 2025 im Uniklinikum Dresden stirbt, ist seine Familie bei ihm. Ein schwarzer Rabe sitzt auf dem Fenstersims, als sein Herz aufhört zu schlagen – ein stilles Zeichen. Am nächsten Tag wird Carl ins Kinderhospiz überführt. Dort kommen über 100 Menschen zusammen, um sich zu verabschieden. Sie streichen ihm über die Haare, halten seine Hand, hinterlassen liebevolle Worte. Kein stilles Sterben, sondern ein letzter Moment voller Nähe.
In der Wohnung der Mertgens ist Carl allgegenwärtig – in Bildern, Ritualen, Gesprächen. Raja überlegt, auf dem Grab ihres Sohnes einen kleinen Briefkasten aufzustellen, für „Himmelsgrüße“. Sie schreibt, um zu verarbeiten, und plant ein Buch über das Leben, Lieben und Loslassen.
Vielleicht geht es euch wie mir und diese Geschichte berührt euch so wie mich. Vielleicht, weil ich selbst Vater bin. Vielleicht, weil Carls Lachen selbst durch die Erzählung hindurch hörbar ist. Vielleicht, weil er uns daran erinnert, was wirklich zählt.
Michaela Jaritz, die Carl als ehrenamtliche Hospizbegleiterin betreut hat, sagte in einem Vorgespräch zu dieser Recherche:
Carl war und ist mein größter Achtsamkeitstrainer. Den Moment schätzen, nichts aufschieben, Verrücktes wagen – das ist sein Vermächtnis.
Und genau das trage auch ich aus dieser Begegnung mit:
Wenn Kinder sterben, ist alles anders – aber die Liebe bleibt.
In voller Länge könnt ihr diesen Text in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) nachlesen. Dort rufe ich immer wieder Menschen aus der Region nach. Als Autor für die LVZ vereine ich meine beiden beruflichen Wege als Freier Redner und Journalist. Es ist mir ein Herzensanliegen an Menschen zu erinnern und über das Leben zu erzählen – ehrlich, empathisch und mit Tiefgang. Das betrifft übrigens alle Ereignisse des Lebens, ob Hochzeiten, Kinderwillkommensfeste, Trauerfeiern oder Jugendweihen: Worte sind die Brücken zwischen Menschen.
Begleitet mich auf die größte Abenteuerreise – das Leben. Mit Humor und Tiefsinn. Ich erzähle – manchmal auch mit Gästen – von großen Festen wie Hochzeit, Taufe und natürlich auch Abschied. Die Trauerfeier, letzte Fest eines Menschen auf Erden. Bei all diesen Lebensereignissen spreche ich als freier Redner – als Wunschredner.
Und alle dieser Feierlichkeiten haben eines gemeinsam: Es geht um Leben, Lieben, Lachen.
Ja, auch bei der Trauerfeier darf geschmunzelt werden. Und auch Episoden aus dem Familienleben bleiben nicht verborgen. Von der Erdbestattung eines Regenwurms bis zur Verwandlung von Wasser in Eis.