Als ich aus dem Mund der Enkelin diese Kindheitserinnerungen hörte, war ich von einer auf die andere Sekunde einfach nur traurig: Mitten im Zweiten Weltkrieg machte sich die Oma – damals noch Kind – auf die Flucht ins Ungewisse. Gemeinsam mit ihrer Mutter und sieben Geschwistern. Die Mutter und zwei der Kinder starben auf dem hunderte von Kilometer langen Fußmarsch an Hunger. Die Kinder, auf sich alleine gestellt, kamen irgendwann und irgendwie im Kriegs-Deutschland an, als Flüchtlinge. Die Geschwister wurden auseinandergerissen – und erlebten erneute Schicksalsschläge, vor allem Schläge.
Die Oma ist derweil zur Frau herangewachsen, hat eine Familie gegründet, und auch hier war nicht alles Reinen. Und was gibt sie Kindern und Kindeskindern mit auf den Weg: „Genießt euer Leben, bevor es zu Ende ist.“ Ein kleiner Satz, der es aber in sich hat. Eine von Herzen gute Frau, eine Kümmererin, die ihr Ding durchzieht. Die da ist, das Leben trotz körperlicher Gebrechen und ohne großes Bankkkonto lebt. Später, als der Winter des Lebens weit fortgeschritten ist, trägt sie den Frühling in ihrer Seele. Gern wäre sie noch einmal verreist, hätte Dinge nachgeholt, die früher zu kurz kamen. Traurig war sie, dass die heutige Jugend nicht mehr so wie sie selbst früher zum Tanz gehen konnte, wo in jeder Kneipe am Wochenende aufgespielt wurde. Ihr Resümee: „Schönheit vergeht, doof bleibt doof.“ Was für eine coole Oma!
“Das schreiben Sie aber nicht.” Bei meinem Trauergespräch mit der Ehefrau und ihrem Sohn fühlte ich mich sofort an meine Großeltern erinnert. Der Schock über den Verlust saß tief, und dennoch war alles wohl geordnet. Doch immer, wenn wir ins Plaudern kamen, wurde ich gebeten, den Füller niederzulegen. Bei jeder Anekdote schloss ich H. ein wenig mehr in mein Herz, wohlwissend, dass ich es nicht erzählen darf. Also haben wir gesprochen über das Holzmachen, wie H. mit der Kettensäge in den Wald gegangen ist, die zwei Morgen Land bestellt hat, als Ostsee-Urlauber nach der Wende endlich Flut und Ebbe an der Nordsee bestaunt hat und jeden Sonntag seine Telefon-Rundrufe bei Familie, Freunden und ehemaligen Arbeitskollegen gemacht hat. Immer darauf bedacht, dass es allen gut geht. Mehr als ein halbes Jahrhundert war H. verheiratet mit der Frau, die mir nun in ihrer Wohnstube gegenübersitzt. Auf den Platz zeigt, wo H. immer saß, in der Schrankwand Bilder von den Enkeln. Und wie sehnsüchtig er auf das erste Urenkelchen wartete. Im Sommer 2021. “Wir haben uns nie gestritten”, das ist ihr Patentrezept für eine über 50-jährige Ehe. Wer kann das schon von sich behaupten. Was für eine Botschaft, in wenigen Worten. Zu erzählen habe ich genug, auch wenn ich wenig mitgeschrieben habe.
“Das kannst du nicht dein Leben lang machen.” Dieser Satz spricht aus tiefster Überzeugung. Und er stammt aus der Zeit, als E. eine Ausbildung zum Spitzendreher machte, sich an der Werkbank abmühte. Es sind die frühen 1950er Jahre in der jungen DDR. Ein Land im Umbruch, ein junger Mann im Aufbruch. Er macht den Sport zu seinem Beruf. Leistungssport. National erfolgreich, international gefeiert. Zurück in der DDR bringt er sein Wissen in die Forschung ein und wird promoviert. Dann kam der Mauerfall. Hier zerbrechen oftmals viele Lebensgeschichten. Für E. war es eine Wende zum Positiven, er kann seine Visionen Realität werden lassen. Die Geschichte erinnert ein bisschen an Steve Jobs, der in der Garage die ersten Apple-Computer baute. Bei E. war es eine kleine Baracke mit Kohleofen. Von hier aus trat er seinen Siegeszug an und entwickelte seine Produkte, bezog repräsentative Räume und erschuf ein Lebenswerk. Aber noch viel entscheidender: Durch einen Mut, seine Neugier stachelte er Partner an, arbeitete bis tief in die Nacht, war viel unterwegs – und vergaß trotzdem eines nicht: Den Sinn seines Lebens – die Familie. Seine Frau hielt ihm zeitlebens den Rücken frei. Sein Sohn und seine Enkel treten in seine Fußstapfen. Nicht 1:1, sondern sie formen sie so, dass es für sie passt. Nichts anders hätte sich E. gewünscht.
Begleitet mich auf die größte Abenteuerreise – das Leben. Mit Humor und Tiefsinn. Ich erzähle – manchmal auch mit Gästen – von großen Festen wie Hochzeit, Taufe und natürlich auch Abschied. Die Trauerfeier, letzte Fest eines Menschen auf Erden. Bei all diesen Lebensereignissen spreche ich als freier Redner – als Wunschredner.
Und alle dieser Feierlichkeiten haben eines gemeinsam: Es geht um Leben, Lieben, Lachen.
Ja, auch bei der Trauerfeier darf geschmunzelt werden. Und auch Episoden aus dem Familienleben bleiben nicht verborgen. Von der Erdbestattung eines Regenwurms bis zur Verwandlung von Wasser in Eis.