Zwei Frauen, zwei Generationen, ein Schmerz: Gemeinsam mit Tochter und Enkeltochter sitze ich vor einigen Wochen zusammen, um den Mann kennenzulernen, dem diese beiden starken Frauen so viel zu verdanken haben: dem Vater und Opa. Der sie das ganze Leben begleitet hat und nun eine so wahnsinnige Lücke hinterlässt. Zu Beginn unseres Gesprächs weiß ich nur den Vornamen. Drei Stunden später kenne ich seine Vita. Nicht nur Jahreszahlen und Orte, sondern das, was ihn ausmacht – in seinen unterschiedlichen Rollen, seinen Charakter, sein Handeln.
Wir blättern in einem dicken Fotoalbum mit der Aufschrift “Meine Zeit mit dir”. Jedes Foto ist eine Erinnerung, hinter jeder Erinnerung steckt eine Geschichte, und davon gibt es viele. Der Titel des Fotoalbums ist kein Zufall, vielmehr entlehnt dem gleichnamigen Lied von Horst Frank aus dem Jahr 1979. Horst Frank, den viele weniger als Sänger, denn als Leinwandheld kennen (“Timm Thaler”). Ein relativ unbekanntes Lied mit einer tiefsinnigen Botschaft, getragen von dieser rauchigen Bassstimme und geprägt von starken Worten. Darin heißt es: “„Diese Zeit mit dir – hat jeden Schmerz geheilt und jeden Sturm besiegt.“ Ganz klar, dieses Lied muss in die Trauerfeier integriert werden. Es gehört zu Romans Leben.
Als ich meine Notizen zuhause sortiere, wird mir klar: Sein Leben war der Film – sein Leben ist wie ein Film. Da ist die Arbeit als Fotograf, als Filmvorführer, als Theaterdirektor. Der Beruf, der seine Leidenschaft ist und die gesamte Familie in den Bann zieht. Der Mann, der Schauspieler bei Premieren trifft und unzählige Filme abspielt, die Grandes Dames der damaligen Zeit huldigt – von Marlene Dietrich bis Marikka Röck. Der zu jedem Film eine Anekdote parat hat und die Filmplakate selbst malt, Schaufensterwerbung gestaltet. Der den Satz “Nur im Kino lebt der Film” verinnerlicht hat.
Und der ein entbehrungsreiches wie erfülltes Leben hat, das reif für die Leinwand wäre: Die jäh zu Ende gegangene behütete Kindheit im Sudetenland durch den Krieg, die Kriegsgefangenschaft und das Quäntchen Glück für den Aufbruch in die Freiheit. Und dann seine Erfüllung in der Familie. Seine große Liebe: Elfriede. Zusammen sind beide stark, erfolgreich, energetisch. Jeder bringt seine Stärken in die Beziehung ein, toleriert den anderen und liebt ihn gerade deswegen. Mehr als fünf Jahrzehnte lang.
Dann der überraschende Tod von Elfriede – und die Sorge um Roman. Der ihm innewohnende Drang zu einem autarken Leben lässt ihn im hohen Alter wachsen, lernen und kämpfen. Auch in der Gewissheit: Elfriede hätte es so gewollt. Er wird ihr Gesandter auf Erden.
Roman hat viel erreicht, auch Unvorstellbares. Sein nächstes Ziel: der 95. Geburtstag. Ein Wunsch, der ein Traum bleibt. An Heiligabend ist er eingeschlafen. An sich schon kein gewöhnlicher Tag, für ihn aber ein besonderer. Dann kommt die ganze Familie zusammen – und er ist jedes Mal auf’s Neue traurig, wenn es nicht schneit. Am 24.12.2021 war die Familie traurig ob der Nachricht von Romans Tod. Und dann fing es sanft an zu schneien.
Schnee im Winter ist an sich nichts Besonderes. Wobei? Wann hat es das letzte Mal so richtig geschneit im Leipziger Tiefland im Winter 2021/2022? In der Nacht vor der Trauerfeier fallen die Temperaturen, aus Regen wird Graupel in Taucha. Und als ich in Freiberg aus dem Auto steige , liegt dort eine echte Schneedecke. Der Bestatter ist mit Schneeschippe im Einsatz, der Friedhof in komplettes Weiß getaucht. Trotz der Trauer und trotz der Anspannung hat jeder der Trauergäste ein Lächeln im Augenwinkel: Genau so hätte es Roman gefallen. Keine Ahnung, ob es Wunder oder Zeichen gibt, aber dieses Wetter für diesen Anlass ist einfach perfekt. Die Trauerfeier wird zu einer Verbeugung vor dem Leben. Persönlich, emotional mit persönlichen Worten der Enkelin und später der Tochter am Grab, mit Szenen aus dem Leben. Ganz am Ende, als wir auf dem Zentralfriedhof Freiberg die Urne niederlassen und uns verabschieden, erklingt aus dem Lautsprecher “Oh, du fröhliche!” Großes Kino – und ganz real.
Begleitet mich auf die größte Abenteuerreise – das Leben. Mit Humor und Tiefsinn. Ich erzähle – manchmal auch mit Gästen – von großen Festen wie Hochzeit, Taufe und natürlich auch Abschied. Die Trauerfeier, letzte Fest eines Menschen auf Erden. Bei all diesen Lebensereignissen spreche ich als freier Redner – als Wunschredner.
Und alle dieser Feierlichkeiten haben eines gemeinsam: Es geht um Leben, Lieben, Lachen.
Ja, auch bei der Trauerfeier darf geschmunzelt werden. Und auch Episoden aus dem Familienleben bleiben nicht verborgen. Von der Erdbestattung eines Regenwurms bis zur Verwandlung von Wasser in Eis.
