“Beim Brand eines Einfamilienhauses in Battaune nahe Doberschütz ist am Sonntagmorgen ein Mann ums Leben gekommen.” Als ich diese Nachricht auf der Website des Mitteldeutschen Rundfunks lese, ahne ich noch nicht, dass ich wenige Tage später den Angehörigen gegenübersitze. Was der MDR mit “Unglück” überschrieb, ist viel, viel mehr. Der unfassbare Verlust des Bruders und Onkels, der es nicht geschafft hat. Eine Familie ohne Obdach, die in einem Rasthof unterkommt. Menschen, die alles verloren haben – nicht nur Hab und Gut, sondern ihr bisheriges Leben und ihren Lebensmittelpunkt: Lutz.
Wir rücken zusammen im kleinen Doppelzimmer, ein Teil der Familie sitzt auf dem Bett. Improvisation ist in diesen Tagen normal. Aber was ist schon noch normal? Innerhalb einer Nacht hat sich alles geändert für die Familie. Tiefe Traurigkeit, unbeantwortete Fragen, Verzweiflung und Wut. Und das klare Bekenntnis zu einem Abschied, der ihm gerecht werden soll. Innerhalb weniger Tage organisiert die Familie eine Trauerfeier und eine Sargbestattung. Das Bestattungshaus unterstützt bei den zahllosen Formalitäten, die in diesem Fall noch mehr sind als sonst. Ich als Trauerredner kümmere mich um Ablauf und Ausgestaltung der Trauerfeier und Trauerrede. Und wir alle werden in diesen Tagen zu einem Team, leisten emotionale Hilfe. Ja, es nimmt auch mich nach mehreren hundert Trauerfeiern mit.
Und dann fällt im Trauergespräch dieser eine Satz:
Wenn mir Ihre Rede nicht gefällt, schmeiße ich eine Bibel nach Ihnen.
Ich habe selten so verdutzt geschaut. Gleichzeitig habe ich die junge Frau bewundert für ihren Mut, ihre Gefühle zu äußern. Und ich habe ihr entgegnet: “Einverstanden.” Denn ich weiß auch: Jeder Angehörige schenkt mir unheimlich viel Vertrauen. Für mich das höchste Gut, mit dem ich sorgfältig umgehe. Und ich lege Wert auf jedes Wort der Trauerrede. Denn für Familien, Freunde und Weggefährten ist es dann das erste Mal, dass sie die Rede hören. Umso höher ist der Anspruch an mich selbst als Zertifizierter Freier Redner. Es punktgenau zu treffen mit der richtigen Mischung aus Gedenken, in schönen Erinnerungen schwelgen, Schlüsselmomente aufleben zu lassen, auch einmal zu schmunzeln und in all dem eine Botschaft zu hinterlassen, die stützt in der Trauerphase. Eine Botschaft über den Moment der Trauerfeier hinaus. Ja, eine gute Trauerrede kann das leisten.
Lutz hatte immer einen lustigen Spruch auf den Lippen. Auch in schwierigen Situationen, mit dem er die Stimmung umgekehrt hat. Und vielleicht hätte er gerade jetzt trotz Schmerz, Verzweiflung, Wut und Ratlosigkeit einen seiner Lieblingssätze gesagt: „Zeuß, was tun? Die Götter sind besoffen.“ Darf man so etwas in einer Trauerrede sagen? Ich finde schon, weil es den Menschen charakterisiert. Dieser eine Satz schafft sofort eine Verbindung, geht direkt ins Herz der Trauergäste und löst positiv besetzte Emotionen aus. Weil alle wissen: Ja, so war er, das sind seine Worte.
Bei dieser wie bei jeder anderen Rede ging es mir aber nicht um das Nacherzählen, sondern den Menschen sichtbar zu machen. Seine Handlungen und seine Art in einen Kontext zu stellen. Lutz, die Identifikationsfigur. Nach dem Tod des Vaters muss er früh lernen, Verantwortung zu übernehmen und wird für die Mutter wie auch für die Geschwister zur Stütze und zum Idol. Lutz, der sich nie in den Vordergrund drängt. Er nimmt sich gerne zurück, gilt aber auch als wandelndes Lexikon der Familie. Und als zuverlässiger Ratgeber. Im Kopfrechnen ist er genauso fit wie im Schach als Kreis- und Vize-Bezirksmeister. Lutz, der nicht auf Äußerlichkeiten achtet, aber, wenn es drauf ankommt, wie aus dem Ei gepellt auftritt. Lutz, der auf Gleichklang aus ist. Oder, wie es seine Nichte Sabrina formuliert: “In sich ruhend, dagegen ist Buddha das reinste Nervenbündel.“
Familie ist Lutz’ oberstes Gut. Mit seiner S-Bahn ist er als Lokführer viel unterwegs, springt ein, wenn andere ausfallen. Für seine Tochter und die Familie ist er der Fels in der Brandung. Zusammenhalt gibt ihm Rückhalt, so wie er es von zuhause gelernt hat. Lutz ist für jeden Spaß zu haben, nur für eines taugt er nicht: für Streit. „So dumm, wie ich’s brauch, können die mir gar nicht kommen.“ Wieder so ein typischer Lutz-Satz und sein Mantra. Dafür ist er bekannt und geschätzt in seinem Dorf, Battaune in Nordsachsen.
Dort, wo ihn jeder kennt. Dort, wo ganz plötzlich sein Leben endete. Oder wie es seine Nichte formulierte: „Er starb wie er lebte: als Held.“
Davon zeugte auch die Trauerfeier und Sargbestattung. Ein ganzes Dorf trug an diesem Tag schwarz, die Kameraden der Feuerwehr standen Spalier, ein Trompetertrio begleitete den letzten Gang zum Grab.
Und als alle Gäste sich verabschiedet haben, kam die Nichte auf mich zu mit einer ganz besonderen Bitte: “Darf ich Sie mal umarmen?” Das war übrigens die junge Frau, die zunächst mit der Bibel gedroht hatte.
Dieser Tage erreichte mich das Feedback der Familie. Darin heißt es: “Trost und Hoffnung zu spenden in trost- und hoffnungslosen Zeiten ist sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich. Es ist nicht einfach den Verlust eines geliebten Menschen in Worte zu fassen. Trotz allem haben Ihre mitfühlenden und sorgsam ausgewählten Worte meiner Mama, Familie und mir ein wenig Kraft und Trost gegeben, wofür wir Ihnen sehr dankbar sind . Trauerreden sind äußerst schwer. Es ist fast nicht möglich die richtigen Worte für den Schmerz der Hinterbliebenen zu finden, denn diesen kann man meist selbst nicht in Worte fassen.” Und weiter:
Um so beeindruckender ist Ihre Fähigkeit kleine Lichtblicke zu schenken, den Mut den Blick auch den kleinsten Hoffnungsschimmer zu widmen und Zuversicht für die kommenden Kapitel des Lebens in Worte zu fassen. Danke für die Hommage an sein Leben und Wirken und die Erinnerung an die Tatsache, daß nicht alles, was ihn ausmacht und wir so lieben, mit ihm gestorben ist und diese Welt verlassen hat. Ein Teil von ihm bleibt bei uns und lebt in und durch uns weiter. Ebenso Danke dafür, Sie nicht mit einer Bibel abwerfen zu müssen.
Begleitet mich auf die größte Abenteuerreise – das Leben. Mit Humor und Tiefsinn. Ich erzähle – manchmal auch mit Gästen – von großen Festen wie Hochzeit, Taufe und natürlich auch Abschied. Die Trauerfeier, letzte Fest eines Menschen auf Erden. Bei all diesen Lebensereignissen spreche ich als freier Redner – als Wunschredner.
Und alle dieser Feierlichkeiten haben eines gemeinsam: Es geht um Leben, Lieben, Lachen.
Ja, auch bei der Trauerfeier darf geschmunzelt werden. Und auch Episoden aus dem Familienleben bleiben nicht verborgen. Von der Erdbestattung eines Regenwurms bis zur Verwandlung von Wasser in Eis.
